Epochen der Turnbewegung

Kaiserzeit (1870/71-1918)

Mit der Reichsgründung 1871 und der Proklamation des preußischen Königs zum deutschen Kaiser war eine der zentralen turnerischen Hoffnungen erfüllt worden, auch wenn die "kleindeutsche Lösung" ohne Österreich nicht ihren Vorstellungen vom gesamtdeutschen Vaterland entsprach. Nach einer ersten Enttäuschung stellten sich die Turner aktiv in den Dienst des neuen Reiches.

Die Kaiserzeit wurde eine Phase großen Aufschwungs für das Vereinswesen und eines umfassenden Ausbaus der Organisationsstruktur des Schwäbischen Turnerbundes als Turnkreis XI der Deutschen Turnerschaft. Neben dem Turnbetrieb, der in Turnhallen nun regelmäßig stattfinden konnte, führte die Turnerschaft mit großem Eifer patriotische Veranstaltungen durch und zeigte militärisches Engagement. Man gab sich "national" und war zu sportlichen Kontakten mit dem Ausland nur in wenigen Ausnahmen bereit. Frauen und Jugendliche hatten es schwer, in den Turnvereinen akzeptiert zu werden. Nicht zuletzt wegen dieser antiliberalen Tendenzen musste die Turnerschaft hinnehmen, dass mit der Arbeiterturnbewegung und dem Schwäbischen Turn- und Spielverband Konkurrenz erwuchs, die ihr Monopol auf dem Gebiet der Leibesübung brachen.

Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 hatte das Turnvereinswesen einen Rückschlag hinnehmen müssen. Enttäuschte Hoffnungen und staatliche Repressionen lähmten. Erst die neue nationale Begeisterungswelle, die seit den 1860er Jahren auch die politische Führung erfasste, gab der Turnbewegung neuen Auftrieb. Zahlreiche neue Turnvereine gründeten sich. 1870 hatte sich die Zahl der Mitglieder in schwäbischen Turnvereinen gegenüber 1855 von ca. 1.000 auf ca. 6.000 erhöht. Der Trend setzte sich über ca. 19.200 im Jahr 1890 bis über 50.000 Turnvereinsmitglieder vor dem Ersten Weltkrieg fort.

Die Vereine entwickelten sich zu gesellschaftlichen Einrichtungen mit einem sehr breiten Spektrum an Aktivitäten. Über die normalen Mitgliederversammlungen und die gesellschaftlichen Abende ("Kneipen") hinaus begingen die Turner aufwendige Feierlichkeiten zur Ehrung ihres Vereins und pflegten mit großem Eifer das Theaterspielen, das Spielmannswesen und das Singen. Auch regelmäßige Turnfahrten gehörten zum Vereinsleben.

Wie genau diese Inhalte des Vereinswesens aussahen, könnt ihr hier nachlesen.

Noch vor der eigentlichen Gründung der Deutschen Turnerschaft (DT) 1868 teilte man die regionalen Turnerschaften in Kreise ein, wonach die schwäbischen Turner 1863 zum Kreis XI wurden und dies auch bis zur "Gleichschaltung" im Nationalsozialismus blieben. Erster Kreisvertreter (heute Präsident) wurde Johannes Buhl.
Mit der Eingliederung in die DT gingen einige Veränderungen der inneren Struktur der Schwäbischen Turnerschaft einher. So wurde 1868 für die Vereine ein sog. "Gauzwang" eingeführt, was einen Ausbau der Turngaue zur Folge hatte. 1881 beschloss der Schwäbische Turntag (die Mitgliederversammlung) die Ablösung des Vorortwesens durch Ausschüsse mit Gau- und Kreisvertretern und brachte damit eine größere Stabilität in die Verbandsarbeit. Eine weitere entscheidende Strukturreform führte der Kreis XI 1895 durch, als er Stimmrecht der Vereine an die Turngaue übertrug, wie es prinzipiell heute noch der Fall ist. Auch die Wiederherausgabe des "Turnblatts aus Schwaben" 1898 gehört in diese Zeit des Verbandsausbaus.

Nachdem die ersten Versuche von 1848, eine gesamtdeutsche Turnerorganisation zu gründen, wegen politischer Richtungskämpfe zwischen radikal-demokratischen und konservativen Turnern und wegen staatlicher Repressionen gegen nationale Bewegungen scheiterten, waren erst 1860 wieder die Rahmenbedingungen für ein solches Vorhaben gegeben. Die Idee eines Nationalstaates wurde allmählich auch auf höchster politischer Ebene aufgegriffen, und der engagierte schwäbische Verfechter der nationalen Einheit, Georgii, sah den Zeitpunkt für einen "Ruf zur Sammlung" der deutschen Turner gekommen. Gemeinsam mit seinem Mitstreiter Karl Kallenberg gelang es ihm, im liberalen Coburg ein erstes deutsches Turn- und Jugendfest zu initiieren und vorsichtig die Weichen für die Gründung der Deutschen Turnerschaft (DT) 1868 zu stellen. Georgii als zentrale Figur der "Sammlung" der DT wurde ihr 1. Vorsitzender. Ihr unrühmliches Ende fand die DT 1936 im Zuge der nationalsozialistischen "Gleichschaltung". Als Deutscher Turnerbund konnte sie nach ihrer Wiedergründung in Tübingen 1950 neu beginnen.

Erste Gründungen dieser Instanzen zwischen Verein und Verband hatte es schon 1847 mit dem Zusammenschluss der 4 Vereine aus Stuttgart, Cannstatt, Esslingen und Ludwigsburg zum "Mittleren-Neckar-Städte-Gau" und 1848 mit der Bildung des Turngau Oberschwaben gegeben, aber die Hauptgründungswelle setzte um 1860 ein. Ab dieser Zeit nahm die Zahl der Turngaue rasch zu. Die ab 1868 geltende Pflicht der Vereine, sich einem Gau anzuschließen, war ein Grund - die ständige Zunahme der Vereine und innere Ausdifferenzierung ein anderer. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zählte der Turnkreis XI 30 Turngaue, also das Doppelte der Zahl der Turngaue im STB heute.

Die Gaugrenzen, die sich an geographischen Gegebenheiten orientierten, ebenso wie die Gaubezeichnungen, die manchmal auf Namen wichtiger Persönlichkeiten zurückgingen, waren ständig im Fluss. Die Aufgaben der Turngaue umfassten das breite Spektrum turnerischer Arbeit: Hier wurden Entscheidungen gefällt und umgesetzt, Feste organisiert und Wettkämpfe ausgetragen.

Grundlage des traditionellen Turnbetriebs bildete seit Jahn das Riegenturnen. Eine Riege bestand aus 10 bis 20 Männern, die entweder der gleichen Alters- oder - später meist - einer vergleichbaren Leistungsklasse angehörten. Angeleitet wurden die Riegen von den Vorturnern. Das Übungsspektrum umfasste Gerätturnen, leichtathletische Disziplinen, die man "volkstümliche Übungen" nannte, und die später entwickelten Frei- und Ordnungsübungen.

Über den Stellenwert dieser verschiedenen Fachbereiche und das richtige "System" des Turnens waren sich die Turnmethodiker nicht einig. Der sogenannte "Barrenstreit" von 1862 steht für die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Gerätturnens, das für die einen wesentlicher Bestandteil des Deutschen Turnens war und den anderen - wie dem schwäbischen Turntheoretiker Otto Heinrich Jaeger - "affig" und unzweckmäßig erschien. Das Gerätturnen ist durch diese Kritik zwar nicht völlig verdrängt worden, hat aber gegenüber den Freiübungen und gerade in den schwäbischen Turnvereinen auch gegenüber dem "volkstümlichen Turnen" an Bedeutung eingebüßt.

Mehr zum Turnbetrieb zur Kaiserzeit findet ihr hier

Die Turner hatten sich bald nach der Gründung - oft gemeinsam mit Sängern und Schützen - zu "des Reiches Stützen" entwickelt. Sie gestalteten sogenannte "Sedanstage" in Erinnerung an den deutschen Sieg über Frankreich 1871 und pflanzten nun nicht mehr nur Jahn- sondern auch Bismarck-Eichen als Zeichen ihrer staatstragenden Gesinnung.

Eine für die Turner besonders typische patriotische Veranstaltung war der Eilbotenlauf 1913, der die Tradition des Staffellaufs als Verkörperung turnerischer Gemeinschaft mit dem Gedenken an die Befreiungskriege und die "Völkerschlacht" bei Leipzig von 1813 verband. Dabei führten Turner aus allen Teilen Deutschlands Staffettenläufe nach Leipzig durch. Die schwäbische Turnerschaft startete an symbolisch bedeutsamen Orten wie Friedrichshafen am Bodensee, der Burg Hohenzollern und dem Hohenstaufen.

Eine ähnliche eindrucksvolle Inszenierung ihrer politischen Gesinnung wiederholte die Turnerschaft 1925 mit dem Hermannslauf in noch größerem Maßstab.

Der Aspekt der Wehrertüchtigung war eines der wesentlichen Merkmale des Deutschen Turnens. Jahn zielte darauf ab, die Söldner der Fürsten durch ein Volksheer zu ersetzen; in der Revolution von 1848/49 bewaffneten sich die Turner, in der außenpolitischen Krise der 1860er Jahre führten die schwäbischen Turnvereine Wehrübungen ein, und im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und im Ersten Weltkrieg stellten Turner Sanitätskolonnen auf. Im Turnbetrieb schlug sich der Wehrertüchtigungsgedanke vor allem im Eisenstabturnen nieder, aber auch die patriotischen Veranstaltungen der Turner trugen militärische Züge. Eine offene Verbindung mit dem wilhelminischen Militarismus gingen die Schwäbischen Turner 1911 ein, als sie dem paramilitärischen "Jungdeutschlandbund" beitraten. Die Militarisierung des Turnens im Nationalsozialismus war hier schon angelegt. Die Erfahrungen der Turner im Ersten Weltkrieg hatten daran nichts ändern können.

Als Teil der Nationalbewegung pflegten die Turner das dort vorherrschende romantisch verklärte Klischee eines deutschen Wesens, das Offenheit für andere Völker kaum zuließ. Ein vehementes antifranzösisches Ressentiment war nur ein Element dieser an Deutschtümelei grenzenden Haltung, die in der wilhelminischen Gesellschaft des Kaiserreichs allgemein verbreitet war. Sie begründete auch den anfänglichen Widerstand der Deutschen Turnerschaft gegen die modernen Olympische Spiele.

Turnerische Kontakte pflegte gerade die Schwäbische Turnerschaft schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur Schweiz, die in mancher Hinsicht eine Vorbildfunktion erfüllte. Die für damalige Zeit spektakulärsten Verbindungen bestanden jedoch - als Erbe der Auswanderung von Turnern nach 1848/49 - zur nordamerikanischen Turnbewegung: 1905 nahmen deutsche Turner unter der Leitung des schwäbischen Turnführers Fritz Keßler am amerikanischen Bundesturnfest in Indianapolis teil, und 1926 machten sie mit dem späteren Vorsitzenden der Schwäbischen Turnerschaft, Wilhelm Obermeyer, eine zweite Reise in die U.S.A., die wie die erste Amerikafahrt Anlass zu stolzen Vortragsreisen und Veröffentlichungen gab.

Die Anfänge des Frauenturnens waren ein mühseliges Überwinden zahlreicher Vorurteile und autoritärer Rollenzuschreibung der patriarchalen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Zwar war im Bereich des Schule dem Mädchenturnen schon eine gesundheitliche und erzieherischen Funktion zugebilligt wurden, aber in den Turnvereinen konnten Frauen zuerst nur als Festdamen und Ehrenjungfrauen teilnehmen.

Die erste Damenriege gründete der TB Ulm 1893, und wenig später öffneten sich andere Vereine in den größeren Städten wie Stuttgart, Heilbronn und Ludwigsburg dem Frauenturnen. Das Übungsangebot beschränkte sich zunächst hauptsächlich auf Frei- und Ordnungsübungen oder Reigen. Frauen sollten Anmut und Disziplin einüben. Kraftvollere Bewegungsformen wie Gerätturnen oder volkstümliche Übungen waren allein wegen der strengen Kleidervorschriften kaum auszuführen. Nur in der Arbeiterturnvereinen konnten Frauen rascher Fuß fassen. Einen großen Aufschwung des Frauenturnens brachte die moderne Gymnastikbewegung, der jedoch erst in der Weimarer Jahren zur vollen Entfaltung kam.

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