Epochen der Turnbewegung
50er und 60er Jahre
Die Erschütterungen des Nationalsozialismus und die mühevollen Aufbauarbeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit verstärkte bei den Turnern die Frage nach der eigenen turnerischen Identität. Die Antwort fanden sie zum einen in einem ausgeprägten Traditionsbewusstsein, das sich vor allem in der Gestaltung der Feste und Feierlichkeiten äußerte, zum anderen besannen sie sich auf ihre originäre pädagogische und - modern formuliert- ihre breitensportliche Tradition. Die Turnbewegung hatte immer die körperliche und charakterliche Bildung des gesamten Menschen im Blick und legte traditionell ihren Schwerpunkt auf ein gute Durchschnittsleistung aller ihrer Mitglieder. Sie hatte daher in der neuen bundesrepublikanischen Gesellschaft auch ohne nationalpolitische und militärische Zielsetzung einen wichtigen Aufgabenbereich.
Es gelang dem STB, mit verstärkten Angeboten für Ältere und Kinder seine Mitgliederstruktur erheblich zu erweitern. Der STB entwickelte sich außerdem zur wichtigsten Organisation für die Gymnastik der Frauen, die in den 50er und 60er Jahren einen weiteren großen Aufschwung nahm. Ein neues Gewicht erhielt mit dem Kunstturnen auch der Spitzensportbereich, der von den Turnern bis dahin nur bedingt akzeptiert war. Schließlich führte der STB Modernisierungsmaßnahmen im Verbandswesen selbst durch und überließ der neuen "STB-Turnerjugend" neue Gestaltungsräume.
Schon im 19. Jahrhundert entwickelte die Turnerschaft Ansätze zu einem eigenen Altersturnen. Es gab Altersriegen, die sich gelegentlich auch zum gemeinsamen Turnen und Wandern trafen und bei Deutschen Turnfesten in einer "All-Deutschland"-Riege antraten. Nach dem Ersten Weltkrieg entschloss man sich, die "alte Garde" zu Wettkämpfen aktiver heranzuziehen. Das Deutsche Turnfest 1933 bot für mehrere Tausende Ältere ein breites Spektrum vom traditionellen Riegenturnen über "Gemischten Neunkampf" bis hin zum "Volkstümlichen Dreikampf".
Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Turnerschaft daran, das Altersturnen systematischer zu pflegen. Ein eigener Altersturnwart wurde nun für altersgemäße Bewegungs- und Veranstaltungsformen zuständig. Gymnastik und Ballspiele nahmen in der neuen Breitenarbeit einen hohen Stellenwert ein, und eigene Alterstreffen entwickelten sich als ideales Forum für alle Bereiche des Altersturnens. Dabei stand nicht mehr nur der Leistungsnachweis im Mittelpunkt, sondern vor allem Gesundheit und Lebensfreude.
Heute ist Kinderturnen ein wesentlicher Aufgabenbereich des STB, und es ist nur schwer vorstellbar, dass es nicht immer diesen zentralen Platz innehatte. Im politisch und militärisch geprägten Vereinsturnen des 19. Jahrhunderts war für Kinder noch weniger Platz als für die jugendlichen "Zöglinge". Kinderturnen fand vor allem in der Schule statt. In der Weimarer Zeit erkannte vor allem die Arbeiterturnbewegung die Bedeutung der Nachwuchsbetreuung, von ihr gingen über Adolf Kofink wichtige Impulse für den Aufbau des Kinderturnens im STB nach dem Krieg aus. Die Aufgabe des Kinderturnens, durch ein vielseitiges Bewegungsprogramm ganzheitliche Erziehungsarbeit zu leisten, entsprach wie nur wenig anderes der neuen Rolle, die die Turnerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm. Der Erfolg dieser Arbeit war überwältigend: die Zahl der Mitglieder unter 14 Jahren stieg zwischen 1952 und 1970 von ca. 46.000 auf über 93.000 an.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die moderne Gymnastikbewegung das Interesse der Frauen an Leibesübung beachtlich ansteigen lassen. Dieser Trend setzte sich in den 50er und 60er Jahren verstärkt fort. Die Zahl der weiblichen Mitglieder im STB hat sich seit 1952 vervielfacht und machte 1970 schon über 40 % der Gesamtmitglieder aus. Frauen wie Margret Schmidtbleicher hatten an den Inhalten dieser Frauengymnastik, die Gegenstand intensiver Fachdiskussion war, wesentlichen Anteil. Lehrgangsarbeit und Vorführungen brachten ständige Weiterentwicklung. Gerade die III. Welt-Gymneastrada, die 1961 in Stuttgart stattfand, zeigte die Vielfalt auf diesem Gebiet. Die Idee der Gymnaestrada 1961 - ein "Weltfest der Leibesübung ohne Wertungen" und "Bewegungswerkstatt" - wird heute erfolgreich in den Landesgymnaestraden des STB immer wieder neu umgesetzt.
Kunstturnen als besonders stilvolles Turnen schwieriger Übungen gab es in Ansätzen schon im Kaiserreich, aber erst in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der sportliche Wettkampfgedanke soweit übernommen, dass spektakuläre Erfolge diesen Zweig des Turnens populär machten. Als die Turnbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Anfang suchte, waren es vor allem die Kunstturner, die mit ersten größeren Veranstaltungen und dem Aufbau von Organisationsstrukturen Pionierarbeit leisteten. Mit ersten Länderkämpfen und ihrem Mitteilungsblatt "Turnerbriefe" stärkten sie die gesamte Turnerschaft, auch wenn auf deren Seite noch traditionelle Ablehnung gegenüber einer Betonung von Spitzenleistungen einzelner zu spüren war. Namen wie Rudolf Nord, Rudolf Spieth, Erich und Theo Wied stehen für den Beitrag der schwäbischen Turnerschaft zum großen Aufschwung des Kunstturnens. Nicht zuletzt diese Anfänge haben den Boden bereitet für den DTB-Pokal, mit dem der STB seit 1983 alljährlich in Stuttgart die Weltspitze des Turnens präsentiert.
Zur Entwicklung der Schwäbischen Turnbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg gehört ganz wesentlich die neue Eigenständigkeit der Verbandsjugend. Erste Anfänge hatte es schon in der Weimarer Zeit gegeben, aber im Nationalsozialismus war den Vereinen von HJ und BdM die Jugendarbeit entzogen worden, so dass es hier einige Aufbauarbeit nachzuholen galt.
Die Turnerjugend selbst setzte Marksteine für eine neue Rolle im Turnerbund. Sie sah ihre Aufgabe in der "Erziehung zum gesunden, natur- und heimatverbunden Menschen" und legte auf die Entwicklung von Gemeinschaftssinn und Persönlichkeit großen Wert. Das Jugendturnen umfasste - wie zur Weimarer Zeit - auch musische Bereiche, Bildungsarbeit und Turnfahrten. Außerdem erhielten sie 1957 ihren ersten Landesjugendturntag und nach der neuen "Ordnung der Turnerjugend" von 1958 ein eigenes Parlament, das die Jugend- und Kinderturnwarte wählte.